Wo komm ich her? Wer will ich sein?

Über die Notwendigkeit von Biografiearbeit in sozialen (Unterstützungs-) Kontexten

Wissenschaftlicher Fachbeitrag von Cindy Jahr

„Die Notwendigkeit, biografisch zu erzählen und zu arbeiten, ist gegeben, wenn das „Ich“ einer Erläuterung und der Anerkennung bedarf, wenn die Gesellschaft keine selbstverständlichen Plätze zuweist oder zur Verfügung stellt.“ (Ruhe, 2012, S. 9) Professionelle Unterstützung kann diesen Platz einräumen und Anerkennung für bisher geführtes Leben geben, Selbstbewusstsein stärken und positive Zukunftsbilder mit den Klienten konstruieren.

Für das Verständnis des Klienten als Person (sein Selbstverständnis, seine Verortung in der Welt sowie ge- und erlebte Erfahrungen und Verhalten) spielt die Biografie eine herausragende Rolle und lässt erkennen, wie und warum Weltsicht auf eben jene Weise strukturiert wurde und wie individuelle Zukunft beeinflusst bzw. dekonstruiert werden kann (Pantucek, 2012, S. 226). Biografiearbeit gibt also Orientierung im Sinne interpretativer und sinnkonstruierender Fallerschließung (Jakob in Otto & Thiersch, 2015, S. 247). Homfeldt und Sting formulieren es noch klarer und knüpfen somit einen Auftrag professionelle Unterstützungssysteme. So sagen sie, „Ausgehend von der Erkenntnis einer lebensverlaufsbezogenen Epidemiologie – frühe Lebensereignisse wirken auf spätere Lebensphasen, aber auch die soziale Lage ist einzubeziehen – ergibt sich die Notwendigkeit einer biografischen und sozialsensitiven Orientierung in spezifischen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit […].“ (Homfeldt & Sting in Otto & Thiersch, 2015, S. 630) Biografiearbeit verstanden und genutzt als rekonstruktive Diagnostik, ist Rüegger und Hüttemann (in Gahleitner, Hahn & Glemser (Hrsg.), 2014, S. 129) folgend „[…] vor allem dann gefragt, wenn es um schwer und mehrfach betroffene Klientel bzw. besonders schwierige soziale Kontexte geht.“ Auch Ruhe (2012, S. 9) formuliert eine Notwendigkeit zur Biografiearbeit in schwierigen sozialen Kontexten, also überall dort, „[…] wo es keine selbstverständlichen Lebenszusammenhänge mehr gibt, wo das Leben unübersichtlich geworden und die Orte des Einzelnen nicht erkennbar sind.“

Die Notwendigkeit von Biografiearbeit stellt somit ein wichtiges Instrument zur Fallkonstruktion, Falldiagnostik und Fallverständnis dar und gibt Ansatzpunkte für Hilfen im Kontext der professionellen Unterstützung. Biografiearbeit zielt auf die Bewältigung biografischer Anforderungen ab (Jakob in Otto & Thiersch, 2015, S. 247) aber „[…] setzt die Entwicklung der Subjektivität der Individuen […] von Selbst und Welt im Zuge von Lern- und Bildungsprozessen voraus.“ (Walther, Hof & Meuth in Walther, Hof & Meuth (Hrsg.), 2014, S. 219) Biografiearbeit leistet aber noch mehr. Sie macht aufmerksam auf den Wert des Einzelnen sowie sein Schicksal und „[…] räumt Plätze der Erfahrungsintegration ein.“ (Ruhe, 2012, S. 10) Der einzelne Mensch steht demzufolge im Mittelpunkt, seine „[…] Erfahrungen, Erlebnisse, Urteile und Bilanzen […]“, so Ruhe (ebd.) stehen im kurz- oder langfristigem Moment im Fokus des Gesprächs. Die Zugänge dafür sind laut Pantucek (2012, S. 226) vielfältig und sollten zu Biografie – Narration ermutigen. Auch ist es möglich Vorerfahrungen selektiv abzufragen, welche der jetzigen herausfordernden Situation ähneln (ebd.). Nicht außer Acht zu lassen sei dennoch, dass ein biografischer Rückblick geglättet und verschönert werden kann, oder Zufälle als Resultate eigener Entscheidungen interpretiert werden (Hildenbrand, 2018, S. 14). Dieses Unwissen und fehlende objektive Wahrheit gehört auszuhalten. Pantucek (in Gahleitner, Hahn & Glemser (Hrsg), 2014, S. 99) postuliert dazu „[…] dass Soziale Arbeit notwendigerweise stets Handeln unter Bedingungen von Nichtwissen und Unsicherheit sein muss.“

Quellen

Hildenbrand, B. (2018). Genogrammarbeit für Fortgeschrittene. Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen. Heidelberg: Carl- Auer Verlag.

Hof, C.; Meuth, M. & Walther, A. (2014). Vermittlung und Aneignung in Lebenslauf und Biografie. Perspektiven einer Pädagogik der Übergänge. In C. Hof; M. Meuth & A. Walther (Hrsg.) Pädagogik der Übergänge. Übergänge im Lebenslauf und Biografie als Anlässe und Bezugspunkte von Erziehung, Bildung und Hilfe (S. 218-240).Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Homfeldt, H.G. & Sting, S. (2015). Gesundheit und Krankheit. In H.U. Otto & H. Thiersch (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit (S. 620-632) (5., erweiterte Auflage). München Basel: Ernst Reinhardt Verlag.

Jakob, G. (2015). Biographie. In H.U. Otto & H. Thiersch (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit (S. 242-250) (5., erweiterte Auflage). München Basel: Ernst Reinhardt Verlag.

Pantucek, P. (2012). Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit (3., aktualisierte Auflage). Wien Köln Weimar: Böhlau Verlag.

Pantucek, P. (2014). Der Fall, das Soziale und die Komplexität – Überlegungen zur Diagnostik des Sozialen. In S. B. Gahleitner, G. Hahn & R. Glemser (Hrsg), Psychosoziale Diagnostik. Klinische Sozialarbeit: Beiträge zur psychosozialen Praxis und Forschung 5. (S. 94-106) (2. Auflage). Köln: Psychiatrie Verlag.

Rüegger, C. & Hüttemann, M. (2014). Rekonstruktive Verfahren der sozialen Diagnostik. In S. B. Gahleitner, G. Hahn & R. Glemser (Hrsg), Psychosoziale Diagnostik. Klinische Sozialarbeit: Beiträge zur psychosozialen Praxis und Forschung 5. (S. 121-134) (2. Auflage). Köln: Psychiatrie Verlag.

Ruhe, H.G. (2012). Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen (5. Auflage). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.