Erkenntnisgewinn durch Erkenntniskonzepte

Oliver König konstatierte schon 2024, dass professionelles Handeln auf ein Gegenstandswissen zurückgreifen muss, welches einerseits eine geforderte Voreingenommenheit erschwert und andererseits aber auch erst ermöglicht (2004, S. 203). Um sich von einem Niveau von Alltagsweisheiten zu entfernen braucht es eine bewusste Weltaneignung. Die Bedingungen dazu müssen somit zwangsläufig in den Blick genommen werden (ebd.). Die dazu verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntniskonzepte beziehen ihren Gegenstandsbereich aus dem wissenschaftlichen Verstehen, Erkennen und Erklären, um daraus zu eigenen erkenntnistheoretischen bzw. wissenschaftstheoretische Konzepten zu gelangen (Lambers, 2013, S. 273). Diese Art Metaebene der Wissenschaftstheorie (also die Wissenschaft der Wissenschaft) ist von Bedeutung, da sie die Frage behandelt, wie Wissen erzeugt wird, unter dem Fokus erkenntnistheoretischer Fragen, also: Wie ist Erkenntnis überhaupt möglich? Mittels dieser Frage entwickelten sich verschiedenste Paradigmen, welche auch Einfluss auf systemisches Arbeiten und ihre Erkenntnisgewinnung haben und den Rahmen des vorliegenden papers weit übersteigen würden, wolle man sie nur annähernd alle bedenken. Daher wird hier stark eingeschränkt und nur auf drei Bezugsrahmen (das Verstehen durch Hermeneutik, das Erkennen mittels Phänomenologie und das Erklären mithilfe des Konstruktivismus) eingegangen. Ich erhebe somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte grobe Orientierung im Sinne eines erkenntnistheoretischen Exkurses anbieten, also den Blick für konstruierte Wahrheiten zu denen es einen Zugang braucht, will man im systemischen Kontext arbeiten, zu schärfen. 

Die drei oben genannten Bezugsrahmen sollen im Anschluss bearbeitet werden. Beginnend mit der Hermeneutik und dem hermeneutischen Zirkel, folgend darauf die Phänomenologie mit ihren Reduktionsstufen zur Wesensschau und abschließend nehmen wir den Konstruktivismus in den Blick, beinhaltend auch ein kleiner Exkurs von Luhmann zu Kleve.

Quellen

König, O. (2004). Familienwelten. Theorie und Praxis von Familienaufstellungen. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

Lambers, H. (2013). Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Opladen Toronto: Verlag Barbara Budrich.

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Verstehen mittels Hermeneutik

„Hermeneutik ist die Philosophie des Verstehens [.]“ (Lambers, 2013, S. 275) welche die geisteswissenschaftliche Pädagogik dominiert (Mikl-Horke, 2001, S. 46). Schleiermacher (1768-1834) und Dilthey (1833-1911) machten die Hermeneutik für die Pädagogik fruchtbar und konnten somit den „[…] Universalanspruch der Naturwissenschaften zurückweisen […].“ (ebd.) Naturwissenschaften sollten somit Deutungs- und Definitionsmacht bzw. –hoheit und –recht abgeben, denn Gesellschaft stellte für Dilthey ein historisches Phänomen dar, welche durch geisteswissenschaftliche Zugänge Erklärungen liefern sollte. Mit dem Ablegen der naturwissenschaftlichen Denktradition verlor die Hermeneutik einerseits „[…] Schutz vor den befürchteten Verengungen […]“ (Lambers, 2013, S. 275) der Naturwissenschaften und andererseits eine vordergründige wissenschaftliche Basis. Gadamer (1900-2002) setzte sich gegen die traditionelle von Schleiermacher und Dilthey geprägte Hermeneutik durch und lieferte mit dem Fokus des wissenschaftlichen Auslegens von Zeichen einen neuen Schwerpunkt. (ebd.) „[…] Texte, Symbole, Produkte, Verhalten, Erleben […]“ sind die Zeichen der Welt in der Menschen leben, eingebunden sind, sich miteinander verständigen müssen und in den Sinn eingegangen wird und ist. (a.a.O., S. 276) Lambers weiter folgend heißt es „Der Hermeneutik geht es demnach um ein methodisches Grundprinzip: das Verstehen von subjektiven Sinnzusammenhängen (Sinnverstehen) als Ausdruck von Eingebundenheit des Subjekts in das Geschehen des Objektiven.“ (ebd.) Um dem Verstehen näher zu kommen kann auf Hegels (1770-1832) Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Geist zurückgegriffen werden. Gefühle, Gedanken und Vorstellungen entspringen dem subjektiven Geist, während der objektive Geist der Vergegenständlichung des subjektiven Geistes darstellt. Mittels dieser Erklärung wird deutlich, dass es sich um einen zirkulären Prozess des Verstehens, weder abschließbar noch linear, handelt. Daher spricht man vom hermeneutischen Zirkel[1].  (Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 24). Hier zeigt sich ein Paradoxon menschlichen Verstehens, „das, was verstanden werden soll, muss in irgendeiner Weise […] bereits verstanden sein.“

Quellen

Lambers, H. (2013). Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Opladen Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Mikl-Horke, G. (2001). Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). München Wien: Oldenbourg.

Zierer, K.; Speck, K. & Moschner, B. (2013). Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung. München: Ernst Reinhardt GmbH & Co KG Verlag.

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Erkennen mittels Phänomenologie

Das Wort Phänomenologie hat seinen etymologischen Ursprung im altgriechischen und setzt sich aus phainomenon = Schichtbares, Erscheinen und logos = Rede, Lehre zusammen (Lambers, 2013, S. 278; auch Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 30). Bereits in Schriften von Oetinger (1702-1782), Kant (1724-1804), Lambert (1728-1777) und Hegel (1770-1831) ist der phänomenologischer Grundgedanke, der Erkenntnisgewinn an Erscheinungen, erkennbar, dennoch wurde erst mit Husserl (1859-1938) und seinen philosophischen Schriften die Phänomenologie zu einer eigenen Forschungsmethode (Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 31). Schütz (1899-1959) überführte sie schließlich in den Fachbereich Soziologie und löst sich somit vom Intuitionismus der frühen Hermeneutik. Mit ihm werden grundlagentheoretische Voraussetzungen phänomenologischen Vorgehens präziser (Lambers, 2013, S. 278).

Nach Grundannahme der Phänomenologie, liegen hinter allen Phänomenen bzw. Erscheinungen der Welt einem dem Beobachter zunächst verborgene Realität und es gilt das Erlebte und Wahrgenommene auf das Wesentliche zurückzuführen, das Wesen der Dinge also herauszuarbeiten und somit zu den Sachen selbst zu kommen (Lambers, 2013, S. 278; Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 32, König, 2004, S. 200; Mikl-Horke, 2001, S. 150). König folgend heißt es, in der Phänomenologie „[…] geht Husserl davon aus, dass jede Erkenntnis notwendigerweise auf ein >originäres Gegebensein< der Dinge angewiesen ist, von der es seinen Ausgang nimmt und auf das es immer bezogen bleibt.“ (König, 2004, S.200)

Zentraler Begriff der Phänomenologie ist der der Lebenswelt in Kopplung an den Alltagsbegriff. Die Alltagswelt wird als intersubjektive konstituierte Sinn- und Kulturwelt in der alle Tatsachen auf Vorinterpretation beruhen sowie ein gemeinsam mit anderen Menschen geteilter Raum, definiert, das heißt jede Betrachtung wird immer zugleich mit Zuschreibungen und Setzungen verbunden und in ähnlicher Weise von anderen Menschen wahrgenommen, da der Sozialraum der gleiche ist. (Lambers, 2013, S. 278; Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 32; Milke-Horke, 2001, S. 148)

Um den Anspruch auf Objektivität zu genügen und gerecht zu werden, soll mittels einer Wesensschau eine Zurückwendung auf den Wahrnehmungsakt selbst geschehen, dies gilt es zum Untersuchungsgegenstand zu machen (König, 2004, S.200). Husserl sagt dazu „Alle Erlebnisse, darin wir uns geradehin zu Gegenständen verhalten (Erfahren, Denken, Wollen, Werten), lassen eine Blickwendung zu, durch die sie selbst Gegenstände werden. Die verschiedenen Erlebnisweisen offenbaren sich als dasjenige, worin alles, wozu wir uns verhalten, sich zeigt, >erscheint<. Diese Erlebnisse werden daher Phänomene genannt. Die Umwendung des Blickes auf sie, die Erfahrung und Bestimmung der Erlebnisse rein als solcher ist die phänomenologische Einstellung.“ (Husserl, 1925, o. S. zit. in Lockowandt 1990, S. 53, zit. in König, 2004, S. 201)

Husserl folgend, sind vier methodische Schritte zu durchlaufen, um die Sachen so zu erkennen, wie sie sind und nicht wie sie uns erscheinen.

  1. Schritt: die Wendung weg von der theoretischen Welt zur natürlichen Welt, dabei sollen alle Vorurteile und Vorkenntnisse offengelegt werden, um diese bewusst auszuklammern und zur natürlichen Welt zu gelangen (Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 32f.)
  2. Schritt: eine nun entstandene natürliche Einstellung wird zu einer phänomenologischen Einstellung geführt indem die natürlichen Einstellungen reflektiert werden, „[…] Einstellungen, Stellungnahmen und Verhaltensweisen [werden] analysiert und […] Identifikations- und Distanzierungsprozesse, Widerstände usw. zum Thema [gemacht].“ (Lambers, 2013, S. 279f.)
  3. Schritt: vom Gegenstand zum Wesen, typische und immer wiederkehrende Eigentümlichkeiten werden identifiziert und typologisiert (a.a.O., S. 280). Heidegger sagt dazu „Das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm herzeigt, von ihm selbst hersehen lassen.“ (Heidegger, 1963, S. 34) Es geht ergo darum, die Phänomene so lange zu variieren und neu zu erblicken, bis sich eine feste Konstante, eine Allgemeine, das Unveränderbare herauskristallisiert. 
  4. Schritt: hier findet der Vollzug einer Wesensschau statt, transzendentale Subjektivität nennt es Husserl, um deutlich zu machen, dass „[…] die Erscheinungen der Welt und die Möglichkeiten, wie sie einem Subjekt zugänglich sind, zusammengehören.“ (Zierer, Speck & Moschner, 2013, S. 34) König (2004, S. 201) spricht von einem Hin- und Herpendeln der Aufmerksamkeit, einerseits auf die Wahrnehmung eines Gegenstandes, andererseits auf die Wahrnehmungsvoraussetzung als solche, abstrahiert lässt sich sagen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Phänomenologie ist eine reflexive Bewusstseinsphilosophie, denn Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Dieses Bewusstsein ist an logische Kategorien gebunden, welche Sprache zur Verfügung stellt. (König, 2004, S.201) Der phänomenologische Erkenntnisweg erfordert ein Leerwerden bezüglich eigener Vorstellungen sowie inneren Bewegungen gefühlsmäßiger, willentlicher oder urteilender Art, „Die Aufmerksamkeit ist dabei zugleich gerichtet und ungerichtet, gesammelt und leer.“ (Hellinger, 2001, S. 21)

Quellen:

Hellinger, B. (2001). Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. München: Knaur.

Husserl, E. In: Held, K. (Hrsg.) (1998). Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte 1. Stuttgart: Reclam.

König, O. (2004). Familienwelten. Theorie und Praxis von Familienaufstellungen. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

Lambers, H. (2013). Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Opladen Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Zierer, K.; Speck, K. & Moschner, B. (2013). Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung. München: Ernst Reinhardt GmbH & Co KG Verlag.

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Erklären mittels Konstruktivismus

Während die phänomenologische Tradition das Instrumentarium bereitstellt „[…] sich dem Gegenüber in einer bestimmten Haltung zu nähern, die eine größtmögliche Rezeptivität der Wahrnehmung auch des minuziös Kleinen sicherstellt […]“, sichert der Konstruktivismus Denkoffenheit und verspricht Gewissheit, dass Veränderungen möglich sind (König, 2004, S. 207).

Zweifel an der Erkenntnistheorie des Rationalismus wurden, so von Ameln (2004, S. 187) folgend, bereits von altgriechischen Skeptikern erhoben und von großen Denkern wie Descartes, Berkeley, Kant und Husserl erneut aufgenommen. Der Konstruktivismus stellt eine disziplinübergreifende und erkenntnistheoretische Grundhaltung dar, welche definiert ist, dadurch dass,

  1. Wirklichkeit kein passives Realitätsabbild darstellt, sondern Produkt einer aktiven Erkenntnisleistung ist und dass
  2. es keine gesicherten Aussagen über die Übereinstimmung subjektiver Wirklichkeit und objektiver Realität gibt.                   (ebd.)

Trotz einer begrifflichen Unschärfe hat sich der Begriff Konstruktivismus in der Fachwelt etabliert und mit Beginn der 1990er Jahre verstärkt Anhänger gefunden (Lambers, 2014, S. 21). So geht die Annahme einher, dass es eine ontologische Struktur[2]  nicht gegeben sein kann und gleichzeitig bestreitet der Konstruktivismus, dass „[…] der Mensch wissenschaftlich das abbilden kann, was ihn als Realität tatsächlich umgibt.“ (a.a.O., S. 23) Lambers folgend heißt es „Die vom Mensch erkannten Dinge und Sachverhalte existieren nicht unabhängig von ihrer Erkenntnis, sondern werden von ihm letztlich konstruiert.“ (Lambers, 2014, 23f.) Körperinterne Zustände werden ergo durch das Bewusstsein nach außen verlegt und konstruieren so eine äußere Realität, welche für Gedanken und Vorstellungen verantwortlich gemacht werden können (a.a.O., S. 24). Somit stellt die Denktradition des Konstruktivismus[3] die Grundlage systemischer Verfahren mit ihren systemischen (Grund-) Haltungen dar (Ameln v.,  2004, S. 187).

Von Ameln weiter folgend, ist das Verständnis der konstruktivistischen Philosophie „[…] essenziell für das Verständnis sowohl der Theorie als auch der Methodik systemischer Arbeit.“ (Ameln v., 2004; Vorwort)

Niklas Luhmanns System (-Umwelt-) Theorie folgt den Grundsätzen des Konstruktivismus (Lambers, 2014, S. 37). Seine erkenntnistheoretische Reflexion der Wahrnehmung wurde mit neurobiologischen Erkenntnissen und naturwissenschaftlicher Selbstorganisationsforschung weitegeführt, um daraus entstandene systemtheoretische und kybernetische Konzepte weiterzuentwickeln (Ameln v., 2004, S. 187). Folgende Tabelle 1 zeigt personengebundene Einflussgrößen, deren (Forschungs-) Schwerpunkte und die daraus abgeleiteten Konsequenzen für eine systemische Praxis.

EinflussgrößenSchwerpunkteKonsequenzen für systemische Praxis
H. M. MaturanaAutopoiesis   Operationale Geschlossenheit und Strukturdeterminiertheit   Strukturelle Kopplung  Eigendynamik und Mechanismen der Selbstorganisation von Systemen (bspw. Familien)   Bescheidenheit des Beraters bezüglich seiner Wirkung (nur Perturbation möglich)   Berater als Beobachter statt Wissender  
H. v. FoersterEigenwerte (nicht) triviale MaschinenRezipieren des Bildes von nicht – trivialen Maschinen hinsichtlich konstruktivistischer Identitätskonzepte  
E. v. GlaserfeldViabilitätskonzept (fit & match)   Bewertungssystem nicht die Korrespondenz mit der Realität sondern nach ihrer Nützlichkeit  Keine Übereinstimmung zwischen Realität und Wirklichkeit möglich   Anwendbarkeit vor allem bei praktischen Wissensbeständen von Lernerfahrungen, und in systemischer Therapie und Beratung   Subjektive Bewertungen bilden interessengeleiteten sozialen Diskurs und dienen nicht einer „Wahrheit“  

Tab. 1 „interdisziplinäre Einflüsse“ (eigene Darstellung nach von Ameln, 2004, S. 188ff.)

Niklas Luhmann (1927-1998), Begründer der modernen Systemtheorie, knüpft an die Theorie autopoietischer und selbstreferenzieller Systeme an und vollzieht somit einen Paradigmenwechsel. So ersetzte er einerseits die Vorstellung von Systemen und ihren Grenzen in eine Unterscheidung System-Umwelt und andererseits postulierte er die selbstreferenzielle und autopoietische Geschlossenheit der Systeme. Dazu weichte er Grenzen klassischer Fachgebiete der Wissenschaften auf und verhalf der Soziologie zu einer Supertheorie (Reese-Schäfer, 2011, S. 58). Seiner Theorie folgend bestehen soziale Systeme nicht aus Menschen oder Handlungen, sondern aus Kommunikationen. So sagt er „Der elementare […] als besondere Realität konstituierte Prozess ist ein Kommunikationsprozess.“ (Luhmann zit. in Reese-Schäfer, 2011, S. 63)

„Luhmanns Arbeiten weisen […] zahlreiche Implikationen für die Praxis der systemischen Arbeit auf“ (Ameln v., 2004, S. 191). So kann festgehalten werden, dass Systeme mit unterschiedlichen Operationsmodi arbeiten, ihrer eigenen Dynamik und Logik folgen, Veränderungen besagter Systeme gleichsam Veränderung im Denken, Wahrnehmen und Erleben darstellen, jedoch weder notwendig noch hinreichend sind. Weiter kann festgehalten werden, dass ein besonderer Nutzen Luhmann`scher Theorie die Erkenntnis des blinden Flecks darstellt. Durch eine Beobachtung zweiter Ordnung (der Beobachter beobachtet den Beobachter) kann mithilfe von Selbstreflexion und Selbstbeobachtung besagten blinden Fleck der Beobachtung überwunden werden. Lambers (2014, S. 164) folgend bietet Luhmanns Systemtheorie eine gewinnbringende, aber keineswegs hinreichende Theorie Sozialer Arbeit, denn sie will und kann keinen Orientierungsmaßstab für Gesellschaft bieten. Auch liefert sie keinen Wert im Sinne von fertigen Antworten. Dennoch ist eine konstruktivistische Perspektive und die Luhmann`sche Systemtheorie bedeutend für einen kritischen Umgang mit dem eigenen professionellen Anspruch (ebd.). Lambers sagt „Die Einschätzung von Erklärungs- und Wertewissen sowie die Entfaltung von Verfahrens- und Evaluationswissen kann mittels Systemtheorie kritisch reflektiert werden.“ (ebd.)

An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Luhmann`sche Systemtheorie eingegangen werden, vielmehr diente dieser Exkurs als Brücke zwischen den konstruktivistischen Konzepten, deren interdisziplinärer Verbindung und Verknüpfung durch Luhmann hin zu der sozialarbeiterischen Professionstheorie von Heiko Kleve (geb. 1969). Sein Entwurf einer sozialarbeiterischen Professionstheorie basiert auf Luhmann`scher Systemtheorie unter Beachtung der Postmoderne dessen Kennzeichen die Dekonstruktion und Ambivalenz darstellen. Seine Ausgangspunkte sind die Annahmen, dass Systeme selbstorganisiert und selbstreferenziell sind und (post)moderne Gesellschaften dekonstruieren müssen. Seine abgeleiteten Konsequenzen für Soziale Arbeit stimmen eher pessimistisch. Denn Kleve folgend, würden die vielfältigsten Konstruktionen von Hilfsangeboten eher dazu führen, dass Klienten zu wenig Anreize für Selbstveränderung erhielten und sich somit mehr auf die „Experten“ verlassen. Des Weiteren gibt er zu bedenken, dass dieser Umstand dazu führe, dass sich Helfersysteme der Gefahr der Selbstbeschäftigung aussetzen. (Lambers, 2013, S. 182ff.) Mittels seiner Einschätzung wird klar, warum Kleve (2016, S. 75) eine Haltung des Nichtwissens von Arbeit im Sozialen fordert. So postuliert er, dass „[…] Nichtwissen als eine äußerst wichtige und wunderbare sozialarbeiterische Haltung verstanden werden kann, die den Erfolg professionellen Handelns, die Hilfe zur Selbsthilfe, wahrscheinlicher werden lässt.“ (ebd.)

Aus konstruktivistischer Perspektive lässt sich sagen, dass die Erkenntnis des Selbst und der Welt, Ergebnis einer interpretativen Leistung unter bestimmten Rahmenbedingungen ist. Einseitige Verweisungszusammenhänge sind zurückzuweisen, da Leistungen und Rahmungen als gleichursprünglich anzunehmen sind. (König, 2004, S. 206) König weiter folgend heißt es „[…] es gibt kein Apriori, das dem einen vor dem anderen einen Vorrang einräumen und damit einen einseitigen Verweisungszusammenhang erlauben würde.“ (ebd.)

Quellen

Ameln v., F. (2004). Konstruktivismus. Die Grundlagen systemischer Therapie, Beratung und Bildungsarbeit. Tübingen und Basel: UTB.

Kleve, H. (2016). Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen. Heidelberg: Carl Auer Verlag.

König, O. (2004). Familienwelten. Theorie und Praxis von Familienaufstellungen. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

Lambers, H. (2013). Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Opladen Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Luhmann, N. (1973). Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In H. U. Otto & S. Schneider (Hrsg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit (S. 21-43). Neuwied: Luchterland.

Luhmann, N. (1990). Sozialsystem Familie. In N. Luhmann, Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven (S.196-217). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Reese-Schäfer, W. (2011). Niklas Luhmann zur Einführung (6. Überarbeitete Auflage). Hamburg: Junius Verlag GmbH.


[1] Begriff geprägt von Friedrich Ast (1778-1841)

[2] Die „Ontologie behandelt […] Fragen nach der Beschaffenheit von Welt und des darin Seienden.“ (Lambers, 2014, S. 23)

[3] Auf die Unterscheidung nach radikalem (nach Maturana), sozialem (nach Gergen), interaktionistischem (nach Reich) und systemtheoretischem (nach Luhmann) Konstruktivismus wird aus Relevanz- und Platzgründen verzichtet.

Wissenschaftlicher Fachbeitrag von Cindy Jahr